Das Ruhrgebiet als Text

Florian Neuner
stellt sein Buch «Ruhrtext. Eine Revierlektüre» vor.




Zu der LXIX.|69.Veranstaltung
der Reihe Personen Projekte Perspektiven
Freitag, den 16. Juli 2010  um 20 Uhr
laden wir Sie und Ihre Freunde herzlich ein

 

 

 

 

 

Atelierhaus
- Alte Schule -
Äbtissinsteig 6
Essen-Steele

 

 

 


Florian Neuner

Notiz

  

                                                       

Die Formel zum Sturz der Welt haben wir nicht inBüchern gesucht,
 sondern auf Irrfahrten.

  

Guy Debord

 

Deutschlands größte Stadt ist gar keine Stadt, zumindest verwaltungstechnisch bildet sie keine Einheit. Der größte Ballungsraum des Landes mit seinen mehr als 5 Millionen Einwohnern hat je nach Betrachtungsweise viele Zentren oder keines. Auch seine Grenzen sind nicht klar definiert. Jedenfalls handelt es sich beim Ruhrgebiet um die exemplarische Stadtlandschaft der Moderne: zusammengewuchert nach den Maßgaben von Bergbau & Schwerindustrie, weitestgehend ohne städtebauliches Konzept – eine Stadt, die es vor der Industrialisierung nicht gab & die sich nach dem Ende des Industriezeitalters neu erfinden muß. Eine städteübergreifende Planung wurde nur zur Schadensbegrenzung & in Krisenzeiten angestrebt, vom Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk, der die Ansiedlung der nach dem 1. Weltkrieg benötigten Arbeitskräfte in geordnete Bahnen lenken sollte bis zur Internationalen Bauausstellung Emscher Park in den neunziger Jahren, die Konzepte kreierte für Reparaturen an der geschundenen Landschaft.

 Das Ruhrgebiet stellt sich heute dar als Patchwork aus alten Ortskernen, Industriebrachen, Arbeitersiedlungen, Verkehrsflächen. Die Grenzen zwischen den Städten verschwimmen dabei ebenso wie die zwischen Zentrum & Peripherie. Mit dem Erfahrungswert ›europäische Stadt‹ kommt man hier nicht weiter. Wenn ich mich in Stockholm, Köln oder Budapest von der Innenstadt aus in Richtung Stadtrand bewege, dann weiß ich im Prinzip, was mich erwartet: ein Altstadtkern (zerstört oder nicht), ein Gründerzeitgürtel, Wohnbauten des 20. Jahrhunderts, schließlich der sogenannte Speckgürtel. Im Ruhrgebiet weiß ich es nicht. Unversehens finde ich mich wieder im Zentrum der Nachbarstadt, in einer ländlichen Enklave, an einer Autobahnbrücke oder auf einem Zechengelände.

 Diesem urbanen Flickenteppich an Ruhr & Emscher versuche ich mit den literarischen Mitteln einer Großcollage nachzuspüren, deren Gefüge sich natürlich erst in der Spannung mehrerer Abschnitte richtig erschließt. Grob unterscheiden lassen sich Passagen, die als historische Tiefenbohrungen angelegt sind & die Texte & Überlieferungen unterschiedlichster Provenienz mobilisieren & montieren, um in diese Räume »einzudringen«, von Abschnitten, über denen auch das Zitat von Ilse Aichinger stehen könnte, das ich meinem Buch China Daily vorangestellt habe: »Die Oberflächen sind wichtig.« Bei diesen mit »Dérive« überschriebenen Passagen, die damit auf die urbanistischen Theorien der Situationisten anspielen, handelt es sich um Bewegungen im Hier & Jetzt des Stadtraums, den »Verlockungen des Terrains« folgend, wie Guy Debord sie beschrieben hat.

  

Das Ruhrgebiet als Text
Florian Neuner
stellt sein Buch »Ruhrtext. Eine Revierlektüre« vor

 

 
Florian Neuners jahrelange literarische Auseinandersetzung mit dem Ruhrgebiet – mit der gegenwärtigen Topographie, aber auch mit der Geschichte dieses exemplarischen Stadtraums
der Moderne – liegt nun gebündelt in dem Band Ruhrtext. Eine Revierlektüre vor, einem Geflechtaus Texten, das strukturell dem Erscheinungsbild dieser polyzentralen „Collage City“ entspricht. Das Rückgrat des Projekts Ruhrtext bilden exzessive Expeditionen durch Stadtlandschaftenzwischen Kamp-Lintfort und Hagen-Eilpe, angeregt von den urbanistischen Theorien der Situationisten, die sich mit ihren Dérive- Experimenten um eine subjektive Aneignung der von Verkehrs- und Stadtplanung gezeichneten modernen Stadt bemühten. Liesl Ujvary schreibt: „In einem Gestus teilnehmender Beobachtung durchstreift Neuner die Straßenzüge, Kneipen und Bibliotheken der Region und bietet uns ein sprachlich exaktes und detailliertes Abbild der Wirklichkeit, wie sie sich ihm darbietet. Seine Schilderungen sind durchaus auch gefühlvoll und mit gesellschaftskritischen Zwischenrufen versehen, ohne je ideologisch zu erstarren.“

Florian Neuner, 1972 in Wels (Oberösterreich) geboren, lebt als Schriftsteller und Journalist in Berlin. Seit 2007 gibt er die Zeitschrift Idiome. Hefte für Neue Prosa heraus, die nach den Möglichkeiten einer zeitgenössischen Prosa als Sprachkunst jenseits des marktgängigen Erzählens fragt. 2007 hat er den Prosaband Zitat Ende (Ritter Verlag, Klagenfurt) veröffentlicht. Jüngste Auszeichnungen: Förderpreis zum Heimrad Bäcker Preis 2009, Adalbert Stifter Stipendium 2009, Alfred Döblin Stipendium 2010. Gemeinsam mit Thomas Ernst hat er zwei Anthologien zur Literatur des Ruhrgebeits herausgegeben: Europa erlesen: Ruhrgebiet (Wieser Verlag, Klagenfurt 2009) und Das Schwarze sind die Buchstaben. Das Ruhrgebiet in der Gegenwartsliteratur (assoverlag, Oberhausen 2010).Florian Neuner ist Teilnehmer von EMSCHERKUNST.2010, dem größten Kunstprojekt der Kulturhauptstadt, für das er Texte geschrieben hat, die sich mit den Territorien zwischen den eigentlichen Ausstellungsräumen beschäftigen. Sein Fließtext Emscherpassage, wird Ende August im Katalog der EMSCHERKUNST.2010, im Hatje Cantz Verlag, Ostfildern erscheinen. Eine gekürzte Fassung liegt im Kurzführer zur Ausstellung bereits vor.

 

 

 

 

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